Die heutigen zwei Tischstillleben haben in den Archiven Ihren Platz bei den Bildern zu einer Reise nach Litauen, zur Familie von meinem Moischen.
Auf den ersten Blick bietet sich dem Betrachter ein eher spärlich bestückter Tisch, vermutet man doch im Baltikum eher die russisch-sowjetische Klischeetradition, nach der man das Glas nach dem Trinken nach hinten entsorgt. Hier sieht es eher so aus, als wären bei vergangenen Anlässen schon alle Gläser verloren gegangen. Und was ist das überhaupt für eine braune Brühe? Trinkt man dort nicht Wodka?
So kommen hier gleich zwei landestypische Besonderheiten zum Vorschein:
1. Das Getränk, das hier konsumiert wird, heißt „Brendis“. Meiner Vermutung nach ist das dem Wort „Brandy“ nachempfunden. Wenn man sich in diesen Dingen nicht besonders gut auskennt, könnte man es sogar mit Brandy verwechseln. In Wirklichkeit ist es aber ein Mischgetränk, mit dem versucht wird, die horrenden Preise für Importierte Spirituosen zu umgehen. Da Litauen weder ein Weinbauland ist, noch konsequenterweise der Genuss von Wein einen hohen Stellenwert besitzt, kommt auch Branntwein in der natürlichen Umgebung praktisch nicht vor. Deshalb wird im Brendis Branntwein geschmacklich imitiert. Auf der Basis von (gelegentlich auch selbstgebranntem) Wodka werden verschiedene Zutaten wie Kaffee, Zimt, Zucker, Kakao und noch das eine oder andere mehr so kombiniert, dass sich die Mischung hinter einem Mariakron oder einem Dujardin gar nicht mehr unbedingt verstecken muss. Wie gesagt, wenn es der Trinker nicht ganz so eng sieht. Wie man sich vorstellen kann, hat jede Familie ihr eigenes Rezept für jeweils den besten Brendis der Gegend oder des ganzen Landes. Ich schätze, dass tatsächlich immer der Brendis der beste ist, der gerade am nächsten zum eigenen Glas steht.
2. Die Trinkrunde, die, wie man sehen kann, von sommerlichen Gemüsesorten und Fleischwaren begleitet wird, folgt einer Trinkzeremonie, die etwas gewöhnungsbedürftig, aber nicht weniger gesellig ist: Alle trinken aus demselben Glas, und zwar reihum. Einer fängt an, hebt das Glas auf die Gesundheit des neben ihm sitzenden und stülpt es sich hinter die Binde. Der Sitznachbar, zugunsten dessen Gesundheit das Sprüchlein gewidmet war, ist damit als nächster dran. Jeder kann sich, nachdem er als nächster bestimmt wurde, soviel Zeit lassen wie nötig, bis er wiederum auf das Wohl seiner Nebenperson das Glas erhebt. Die Flasche ist schon fast leer, man sieht also, dass auch damit Menge zu machen ist.
Das Baltikum liegt im touristischen Trend der Zeit; ich hoffe, dass ich mit dieser kleinen landeskundlichen Information dazu beigetragen habe, den vielleicht bevorstehenden Aufenthalt des Lesers ein wenig zu bereichern.
Yooee - 2005-08-11 10:35 - Steht unter:
TSL Tischstillleben